Letztes Weihnachten habe ich von meiner lieben Freundin Marianne einen ganz besonderen Kalender geschenkt bekommen. Darauf stehen nicht wie sonst üblich Sprüche, sondern Fragen. Jeden Morgen, wenn ich zu Hause bin, reiße ich ein Blatt vom Kalender ab und stelle mir die Frage die darauf steht. Bei manchen Fragen habe ich sofort eine Antwort, manche jedoch zwingen mich dazu nachzudenken. Manchmal habe ich auch gar keine Antwort.
So ging es mir vor einigen Tagen, als auf dem Kalenderblatt die Frage stand: „Wann hast du zuletzt einen Sonnenaufgang erlebt?“ Ich konnte mich nicht mehr bewusst daran erinnern, es war schon viel zu lange her. Das musste ich so schnell wie möglich ändern. „Wer weiß, wie lange das traumhafte Herbstwetter noch anhält und morgens keine grauen Wolken oder dichter Nebel die Sonne verdecken“, dachte ich. Gleich morgen früh würde ich die Gelegenheit nutzen, um bei einem Spaziergang die Sonne aufgehen zu sehen.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war es noch dunkel. Anstatt meine täglichen Yogaübungen zu machen, schlüpfte ich sofort in meine Hose und Jacke, setzte meine Mütze auf und los ging es in den schon hell werdenden Morgen. Ich entschied mich, eine meiner Lieblingsrouten zu gehen, die auf den Hügel hinter dem Haus hinaufführte. Von dort oben hatte ich einen herrlichen Blick über die Berge und Täler meiner Heimat. Am Himmel zeigten sich noch die letzten Sterne der Nacht, und die schmale Sichel des Mondes glänzte leicht silbrig. Es war ein milder Morgen. Der Wind wehte sanft durch die Laubbäume hindurch und ließ die bunten Blätter mit leisem Rascheln zu Boden gleiten. Ich war ganz eingefangen von der Magie des Augenblicks. Ganz ohne Anstrengung, mit einer Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit präsentierte sich die Natur in ihre herbstliche Schönheit.
Als ich den Hügel hinaufmarschierte, begleiteten mich die Kühe der danebenliegenden Weide unter Glockengebimmel ein ganzes Stück. Vielleicht hatten sie Gefallen an meiner roten Jacke gefunden. Nach einer zwanzigminütigen Wanderung war ich oben am Hügel angekommen und blickte auf den inzwischen hellgrau gefärbten Himmel. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, bald würde ich meinen ersten Sonnenaufgang seit langer Zeit sehen. Gespannt blickte ich in Richtung Osten, wo sich schon ein vielversprechender goldener Schimmer von den Bergkuppen abhob.
Alsbald sah ich einen hellen Streifen, und da schob sich auch schon in Windeseile die Sonne nach oben und tauchte alles in gleißendes Licht. Ich war überwältigt von der plötzlichen Kraft, die die Sonne ausstrahlte. Eine Kraft, die sich auf mich übertrug. Ein neuer Tag war geboren. Ein kostbarer Tag. Ein Tag, der nur heute da war, und der so nie wieder kommen würde.
Ich würde ihn pflücken wie eine schöne Blume. Ich würde ihn achten. Ich würde ihn nutzen.
Wir wissen nie, was morgen sein wird. Wir haben immer nur heute. Wir haben immer nur den einen Augenblick.
Genießen wir den heutigen Tag! CARPE DIEM!
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